Auf der Rasenfläche gegenüber der Turnhalle des Humboldt-Gymnasiums in Weimar wachsen orangefarbene Blumen. Schaut man genauer hin fällt auf, dass rundherum kein Gras wächst, sondern wenn überhaupt ein bisschen Unkraut. Eine Fläche, die erst auf dem zweiten Blick Fragen aufwirft. Einige Schüler*innen der 9d finden, dass die Stelle aussieht wie ein Grab für ein Haustier. Eine Gruppe Schülerinnen erinnert sich: „Hier war doch letztens noch ein Fuß, so abgebrochen, aus Metall oder so.“ Ihre Kunstlehrerin ergänzt, dass viele Jahre lang noch die Bodenplatte und der Fuß einer Plastik auf dem Schulgelände gewesen seien, bis sie im April 2023 entfernt wurden. Die Schule selbst habe davon nichts mitbekommen; auf Nachfragen wusste niemand etwas. Das Schulgelände gehöre zu den Weimarer Wohnstätten, die den Abbau der Bodenplatte wohl veranlasst haben.
Keine materiellen Spuren am ehemaligen Standort des Kunstwerks, kaum Anhaltspunkte zum Aussehen der Figur – die Spurensuche in Weimar begann mit vielen Fragen und einer Recherche im Internet. Was tippt man in die Suchleiste, wenn man eigentlich nichts weiß? „statue humboldt-gymnasium weimar ddr“. Treffer: Thüringer Allgemeine vom 9. Februar 2017: Wo ist „Die Bodenturnerin“? Polizei Weimar sucht Statue des Humboldtgymnasiums. Allen Recherchegruppen gelang es, ein Bild des verschwundenen Kunstwerks zu finden. Die Zeitungsartikel aus dem Online-Archiv der Thüringer Allgemeine erklären, warum das Kunstwerk nicht mehr auf dem Schulgelände ist. Die Bronzefigur wurde 2013 vom Sockel gestoßen, dabei beschädigt und von der Stadt Weimar eingelagert. Anfang 2017 war die Plastik nicht mehr auffindbar, jegliche Spur verloren. Die Zeitung griff das Verschwinden des Kunstwerks später nicht mehr auf, bzw. war online kein jüngerer Zeitungsartikel zu finden. Die erste Internetrecherche lieferte weitere Anhaltspunkte für die Spurensuche, darunter den Namen des Künstlers, verschiedene Bezeichnungen für das Kunstwerk („Sportlerin“, „Turnerin“) und die Angabe, dass die Plastik zur Eröffnung der Leninschule 1974 aufgestellt wurde. Die Recherche wurde im Stadtarchiv Weimar fortgesetzt. Dort entdeckte eine Gruppe, dass das Schulgebäude erst ab 1979 gebaut und im August 1980 eröffnet wurde. Das Jahr 1974, vielleicht ein Tippfehler in der Zeitung? Die anderen Gruppen recherchierten zum Künstler Eberhard Reppold und zu Siegfriede Weber-Dempe, einer erfolgreichen Leichtathletin aus Weimar, die im Kunstwerk dargestellt ist. Einige Schülerinnen machten sich vom Stadtarchiv aus auf den Weg zu dem Büro der Weimarer Wohnstätten und versuchten dort herauszufinden, wo der Fuß und die Bodenplatte geblieben sind. Eine Frage, die sich bis zum Ende des Projektzeitraums nicht klären ließ.
Einen Tag später besuchte die Klasse die Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße und traf dort auf eine ehemalige Turnerin in der DDR, die als 9-jährige auf ein Sportinternat in Halle und weit weg von der Familie in Thüringen kam. Das Gespräch verdeutlichte den Jugendlichen das System der Sportförderung in der DDR und den enormen Druck, unter denen die Sportler*innen standen. Gemeinsam mit der Zeitzeugin und Expertin für Turnen schaute die Klasse auch auf ein Foto der Bronzefigur, die die Weimarer Leichtathletin Siegfriede Weber-Dempe in einer sehr typischen Pose aus dem Bodenturnern, aber auch mit einem sehr ästhetisierenden Blick zeigt.
Sägen, bohren, schrauben, kleben – im Anschluss an die Spurensuche gestalteten die Jugendlichen an zwei Nachmittagen beeindruckende Kunstwerke aus Holz und verschiedene Aspekte von Ästhetik, Körperbildern und Druck im Sport zum Ausdruck bringen. Dabei kam es in der Auseinandersetzung mit der Originalplastik von Eberhard Reppold zu ganz eigenen Interpretationen.
