Mit 612 m² ist das Wandbild von Erich Enge (*1932) im Erfurter Rieth nicht nur das flächengrößte Kunstwerk innerhalb des Projekts, sondern auch eines der größten Wandbilder Europas. Im Rahmen von »Vor dem Verschwinden« tauchten junge Erwachsene in die Geschichte des Kunstwerks ein und gestalteten auf dem Gelände der Jugendberufsförderung ERFURT (JBF) ein eigenes Wandbild.
Die Gruppe der JBF startete am 20. Juli 2023 mit einem Besuch der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße in das Projekt. Mit einer Führung durch die Dauerausstellung bekamen sie einen guten Überblick über den Haftalltag im Gefängnis der Staatssicherheit in Erfurt und der Geschichte der DDR allgemein. Im Anschluss an die Führung konnte die Gruppe sich ein Thema zur Vertiefung aussuchen. Die jungen Erwachsenen entschieden sich einstimmig für das Thema „Staatssicherheit“ und beschäftigten sich anhand der Exponate in der Dauerausstellung mit den Überwachungsmethoden. Der erste Projekttag endete mit einer Einführung in das Thema „Kunst in der DDR“. Besprochen wurde, wie Künstler*innen in der DDR durch die staatlichen Vorgaben eingeschränkt worden sind und wie sich trotz dessen dennoch künstlerische Freiheiten auslebten.
Einen Tag später stand die direkte Begegnung mit dem Wandbild von Erich Enge im Fokus. Gemeinsam mit der Restauratorin Julia Hurlbeck und der Museumspädagogin Lisa Ströer erkundeten die Jugendlichen die Motive und den Erhaltungszustand des Kunstwerks. Um das gesamte Wandbild zu erfassen, muss man einmal um das Gebäude herumlaufen. Bei der intensiven Betrachtung erkannten die jungen Erwachsenen, dass das Bild eine Geschichte erzählt. Die Geschichte beginnt mit der Oktoberrevolution 1917 und zeigt, wie die Revolution die gesamte Welt umspannt und positive Effekte für die Gesellschaft bringt. Es zeigt die Entwicklung einer modernen Landwirtschaft und Zukunftstechnologien. Die philosophische Grundlage des Werks basiert auf einem Zitat von Karl Marx: „Die Idee wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift.“ Das Kunstwerk zeigt somit das Geschichtsbild des DDR-Staats. Laut Erich Enge ist in dem Bild jedoch auch Kritik versteckt. Die an einem Vorhang mit dem Kopf nach unten hängende Eule ist für ihn ein Sinnbild für falsche Wahrheit und Dummheit. Diese Deutung verbreitete er nach dem Ende der DDR. Julia Hurlbeck erklärte die Besonderheiten des Kunstwerks, darunter die Farbgebung und die Technik. Sie erklärte, dass die Farben chemisch hergestellt worden sind und eine starke Haltbarkeit haben. Die Farben beschränken sich auf Blau, Rot und Ocker, weil andere Farben in der Technik nicht herstellbar sind. Julia Hurlbeck hatte auch einige Fotos aus der Entstehungszeit dabei. Erich Enge setzte seinen Entwurf in den Sommermonaten 1977 und 1978 um. Insgesamt 190 Tage arbeitete er auf dem Gerüst. Seit der Fertigstellung prägt das Kunstwerk das Stadtbild rund um die Vilnius-Passage. Seit vielen Jahren allerdings bröckelt der Putz. Die Finanzierung der Restaurierung ist noch offen. Nach der Mittagspause vertieften die jungen Erwachsenen die Geschichte des Wandbilds und tauchten über Zeitungsartikel aus den letzten Jahren in die Debatte ein.
Zwei Wochen später gestaltete die Gruppe ein eigenes Wandbild. Mit einer Fülle von Ideen und kreativer Energie konnten sie ihr Wandbild unter Anleitung des Grafikdesigners und Künstlers Felix Schwager in nur zwei Tagen (3./4. August 2023) von ersten zeichnerischen Übungen bis zur gestalteten Wandfläche umsetzen. Die Gestaltung der Wandfläche an der Außenfassade des Gebäudes der JBF im Storchmühlenweg orientiert sich an den Interessen und Hobbys der Gruppe. Sport, Urlaub und Reisen, Gastronomie sowie Lieblingstiere sind Themen, aus denen die jungen Erwachsenen gemeinsam mit Felix Schwager Motivgruppen für ihr eigenes Simultanbild entwickelten. Der gemeinsame Entwurf wurde schließlich mittels eines Projektors auf die zu gestaltende Fläche geworfen und die Umrisse vorgezeichnet.
Inspiriert von Erich Enge, wurden für das eigene Wandbild die vorwiegenden Farben Orange und Blau verwendet. Voller Begeisterung gestaltete die Gruppe vom JBF ein dynamisches und farbenfrohes Kunstwerk für eine zuvor triste Außenwand. Am Freitag arbeiteten sie sogar bis weit über den Feierabend hinaus, um ihr Kunstwerk fertig zu stellen.
Der Abschluss des Projekts fand am 18. August 2023 in der einen Tag zuvor eröffneten Sonderausstellung zur Projektreihe »Vor dem Verschwinden« statt. Die Ausstellung bot Einblicke in die Spurensuchen andere Gruppe und zeigte die entstandenen Kunstwerke sowie die recherchierten Geschichten zu den baubezogenen Kunstwerken aus der DDR. Als erste Besucher*innengruppe probierten die Erfurter*innen die Mitmach-Stationen aus und trugen aktiv zum Gemeinschaftskunstwerk im letzten Raum der Ausstellung bei.
Am Ende des Projekts blicken die Teilnehmer*innen auf viele positive Erfahrungen zurück. Sie stärkten ihr historisches Verständnis, vertieften ihr Wissen über die DDR und erlebten, wie aus Ideen und Pinselstrichen etwas entstehen kann, dass nicht nur schön aussieht, sondern auch Geschichten erzählen kann – ihre eigenen Geschichten.
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