Das Denkmal für die Opfer des Faschismus von Walter Krause steht auf einem zentralen Platz mit viel Laufpublikum: dem Bahnhofsvorplatz in Mühlhausen. Vermutlich nehmen jedoch nur wenige das Denkmal überhaupt wahr. Es ist nicht mittig auf dem Platz, sondern befindet sich eher am Rand, an einem von Bäumen gesäumten Weg. Das Denkmal nimmt sich in diesem Ensemble nicht gerade wichtig, dabei hat es eine Botschaft, die bis heute aktuell und relevant ist: „Nie wieder Krieg“. In der Zeit, in der das Denkmal entstanden ist, war vielen Menschen das Gedenken an die Opfer des Faschismus und Nationalsozialismus ein emotionales Bedürfnis, in der DDR wurde dieses Gedenken vom Staat zu einer Pflichtveranstaltung erhoben.
1949 erhielt Walter Krause (1891-1967) von der VVN (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes) den Auftrag für das Denkmal. Im April 1951 wurde das Denkmal feierlich vor etwa 5000 Menschen aus Mühlhausen und Umgebung eingeweiht.
Den meisten Passant*innen in Mühlhausen ist das alles wahrscheinlich nicht bekannt, denn wie so oft bei Kunstwerken im öffentlichen Raum ist der Kontext vor Ort nicht sichtbar.
Der LK Sozialkunde des Friedrich-Ludwig-Jahn-Gymnasiums in Großengottern traf zu Beginn ihrer Spurensuche zu „Krause in Mühlhausen“ auf Steffi Maass, Museumspädagogin der Mühlhäuser Museen und Expertin für Walter Krause. 2017 hatte sie sich im Rahmen einer Ausstellung intensiv mit Walter Krause auseinandergesetzt.
Gemeinsam mit Steffi Maass nahm die Projektgruppe die vier Seiten des Denkmals Schritt für Schritt unter die Lupe. Auf dem Sockel befinden sich die Namen von mehreren Konzentrationslagern, Winkel, die in den Konzentrationslagern zur Kennzeichnung und Kategorisierung der Gefangenen dienten und die Mahnsprüche: „Den Toten zur Ehr und den Lebenden zur Mahnung“ sowie „Unsterbliche Opfer ihr sanktet dahin“. Mittig auf dem Sockel befindet sich eine Säule, an der vier Figuren angebracht sind. Diese sind typisiert dargestellt. Mit ihren Körpermerkmalen und ihrer Körperhaltung sind die Figuren Darstellungen verschiedener Emotionen und Erfahrungen. Eine der zwei Frauenfiguren ist mit einem gewölbten Bauch als Schwangere dargestellt, die ihr Gesicht hinter ihrem Kleid verbirgt. Gemeinsam mit Steffi Maass überlegte die Gruppe, dass die Figur Leid und Trauer verkörpert während das im Bauch angedeutete Kind auf einen Neuanfang und eine hoffnungsvolle Zukunft deutet. Die drei anderen Figuren wirken kämpferisch: Die Männerfiguren sind mit Handfesseln dargestellt. Während eine Figur sich von den Fesseln befreit hat, nimmt die noch gefesselte Figur eine kämpferische Pose ein, dargestellt mit einem angewinkelten Arm. Die zweite Frauenfigur schürzt ihren Rock, im Begriff einen Schritt nach vorn zu tun.
Die Botschaft des kämpferischen Neuanfangs untermauert den Optimismus der neuen sozialistischen Staatsgründung. Krauses Denkmal in Mühlhausen passt damit in das kunstpolitische Bildprogramm der frühen DDR. Es setzt sich jedoch auch davon ab. Bei einem Vergleich mit Fritz Cremers Denkmal für Buchenwald falle auf, dass Krause mit seinen Figuren einfühlsam verschiedene Charaktere sowie unterschiedliche Facetten der Trauer, des Leids und des Neuaufbruchs schildere, erklärt Steffi Maass. Cremers Denkmal, dass von der SED zum Nationalmonument des kommunistischen Widerstandes stilisiert wurde, stellt die Häftlinge weniger gebrochen, und vor allem selbstbewusst dar und mahne daher eher an die Sieger als an die Opfer.
Die Auseinandersetzung mit dem Künstler und dem Denkmal wurde schließlich im Depot der Mühlhäuser Museen fortgesetzt: Die Jugendlichen konnten hier die aus Gips gefertigten Vorarbeiten für das Denkmal am Bahnhofsvorplatz unter die Lupe nehmen. Im Vergleich mit dem aus Muschelkalk entstandenen Werk fiel den Jugendlichen auf, dass in der finalen Umsetzung einige Kleinigkeiten verändert wurden. So fehlt im Gipsmodell beispielweise noch die Schiebermütze, die eine der Figuren auf dem Kopf trägt. Im Modell sind die Details außerdem noch viel besser zu erkennen. Das mittlerweile 70 Jahre alte Denkmal weist Abnutzungserscheinungen wie Abschleifungen auf, die solche Details verschwinden lassen.
Im Depot der Mühlhäuser Museen konnten die Schüler*innen sich näher mit der Kunst Walter Krauses beschäftigen. Sie stellten fest, wie sein Schaffen durch die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geprägt war. Krause erlebte die Umbrüche vier politischer Systeme. Im Depot befindet sich auch eine Plastik, die einen idealisierten, schwerttragenden Männerkörper darstellt, der dem nationalsozialistischen arischen Körperbild verpflichtet ist und ganz der NS-Ästhetik entspricht. Durch diesen Vergleich wurden die zeitlichen Widersprüche deutlich, in denen Krause als Künstler tätig war.
In der DDR war Walter Krause Mitglied im Verband Bildender Künstler (VBK). Das ermöglichte ihm erst, an öffentlich ausgeschriebenen Wettbewerben für Kunstwerke und Denkmäler teilzunehmen. Was es bedeutete Künstler oder auch Künstlerin in der DDR zu sein, vertieften die Jugendlichen am zweiten Projekttag in der Gedenk- und Bildungsstätte Andreasstraße. In der Dauerausstellung sahen sie sich Beispiele für angepasste, staatliche Kunst in der DDR und Kunst, die im Untergrund entstand, an. In der Sonderausstellung zur Projektreihe „Vor dem Verschwinden“ bekamen sie einen Einblick in andere Projekte zu Kunstwerken im öffentlichen Raum. Die Jugendlichen erkannten, dass auch in der DDR die Kunst vielfältig war. „Freiheit“, ein Begriff, den die Jugendlichen als Merkmal ihres heutigen Kunstverständnisses nannten, war in der DDR, so ihr Fazit, in „eingeschränktem“ Maße möglich. Die Jugendlichen beschrieben dies auch als „versuchte Freiheit“.
In den letzten beiden Tagen konnten sich die Jugendlichen an einem kreativen Ort künstlerisch mit den Erkenntnissen aus ihrer Spurensuche auseinandersetzen. Im Atelier des Künstlers Ralf Klement in Dachrieden gab es in jeder Ecke etwas zu entdecken und die Jugendlichen konnten die Atmosphäre der großen Lagerhalle aufsaugen. Fünf Schüler*innen beschäftigten sich unter Anleitung von Ralf Klement mit dem plastischen Gestalten und fertigten Gipsmodelle an. Dabei orientierten sich die Schüler*innen an dem, was sie an Eindrücken in der Gedenkstätte gesammelt hatten und zeigten den Unterschied zwischen Kunst in der DDR und ihrem eigenen Kunstverständnis auf. Eine schwarze Figur in einem roten „Gefängnis“ steht stellvertretend für die Menschen, die aus politischen Gründen von der Staatssicherheit in dem ehemaligen Untersuchungsgefängnis Andreasstraße gefangen genommen wurden. Ein schwarzer Kubus symbolisiert eine zensierte Kunst- und Meinungsfreiheit. Die Ergänzung bzw. das Gegenstück ist ein geöffneter Kubus, auf dessen Außenseiten verschiedene Ausdrucksformen von Kunst abgebildet sind und dessen Mitte bunt und damit vielfältig und nach außen hin geöffnet ist. Beide Werke sind in ihrer abstrakten Gestaltung als bewusste Gegenentwürfe zu einer realistischen Darstellung im Sinne eines Sozialistischen Realismus gedacht.
Im Podcast-Workshop entstand die nun schon 11. Folge der Reihe „Vor dem Verschwinden“. Die Jugendlichen verarbeiten in dieser Folge ihre Eindrücke des Ateliers in Dachrieden und machen die Informationen über Walter Krause und das Denkmal in Mühlhausen für alle Interessierten im Hörformat auf Spotify verfügbar.
Am letzten Tag kam die Frage nach der Aktualität des Denkmals auf. Was kann uns ein über 70 Jahre altes Denkmal heute noch sagen und was geht uns die Botschaft an?
Bis heute finden auf dem Bahnhofsvorplatz in Mühlhausen immer noch Gedenkveranstaltungen statt. An festen Gedenktagen im Januar und im September wird nicht nur an die Opfer von Faschismus und Nationalsozialismus gedacht, sondern auch die Bedeutung dieses Gedenkens für die Gegenwart unterstrichen: „Orte wie Halle und Hanau, Begriffe wie NSU, Namen wie Walter Lübcke und rechte Netzwerke in Polizei und Bundeswehr würden zeigen, dass es wichtig sei, gegen Faschismus, Rassismus und Antisemitismus aufzutreten, heißt es in einer Mitteilung“ der Linken für einen Gedenktag in Mühlhausen im September 2020.
Auch in der Projektwoche wurde erkennbar, wie bedeutsam ein aktives Gedenken heute noch ist. Der Künstler Ralf Klement zeigte uns Porträts aus Holz, die er von den zehn Opfern des NSU angefertigt hat. Die Porträts zeigen die Menschen als Einzelpersonen und stellen damit ihre jeweiligen Identitäten in den Mittelpunkt. In beiden Denkmälern, von 1951 und heute, zeigt sich, das gesellschaftliche Herausforderungen wie gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, geschlossene Weltbilder, rechtes Gedankengut nach wie vor drängende und aktuelle Probleme sind und uns alle angehen.