Sitte in Ilmenau

8 Uhr ist eine ungewöhnliche Zeit für eine Verabredung in der Mensa. Für die Beschäftigung mit einem baubezogenen Kunstwerk im Innenraum der Mensa ist die Uhrzeit perfekt. So hatte der Jahrgang 9 der Assisi-Schule in Ilmenau die Möglichkeit, in Ruhe das Betonrelief von Rudolf Sitte (1922-2009) zu betrachten und mit Antje Kirsch vom Verein Freie Akademie Kunst + Bau in Dresden ins Gespräch zu kommen. Der Verein bewahrt das Archiv der Produktionsgenossenschaft Kunst am Bau, die 1958 von mehreren Künstlern gegründet wurde und ein eigenes Atelierhaus unterhielt. Das Archiv enthält vor allem Auftragsunterlagen zu baubezogenen Kunstwerken, wie Honorarvereinbarungen, Rechnungen und Briefwechsel zwischen Künstler und Auftraggeber.

Das Betonrelief in der Mensa Ilmenau „ist ein besonderes Werk“, begann Antje Kirsch das Gespräch mit der Projektgruppe. Die Verwendung von Beton im Innenraum ist sehr selten und das Kunstwerk hat auch eine bauliche Funktion: Das Relief ist eine tragende Wand zwischen zwei Speiseräumen und hat eine Rückseite. Heute bezeichnet man die beiden Seiten des Reliefs als „positiv“ bzw. „negativ“. Beim Positiv treten die Formen und Figuren hervor. Vom Positiv formte Sitte eine weitere Gipsform ab, mit der er dann das Negativ seines Motivs erstellte. Ob Sitte dem Kunstwerk selbst diesen Namen gegeben hat, konnte Antje Kirsch nicht sagen. In den Unterlagen im Archiv ist die Bezeichnung „Lehre und Forschung der Technischen Hochschule“ zu finden. Dabei handelt es sich wahrscheinlich um das vorgegebene Thema für die Auftragsarbeit.

Rudolf Sittes Werke sind häufig figürlich und abstrakt. Für die Mensa in Ilmenau kombiniert er die abstrahierte Darstellung von Schalttafeln und Magnet- und Spannungsfeldern mit der figürlichen Darstellung von forschenden Menschen. In der frühen DDR waren die politischen Richtlinien für die öffentliche Kunst sehr strikt, eine Betonung der Form wie bei abstrakten Werken wurden abgelehnt. Rudolf Sitte wurde 1949 von der Kunsthochschule exmatrikuliert, weil er den Vorstellungen nicht entsprach und musste ein Jahr im Bergbau arbeiten. Vor allem ab den 1970er Jahren entstanden vermehrt geometrische, formale, abstrakte baubezogene Kunstwerke. Antje Kirsch erklärte: „Die Künstler in der DDR haben immer nach ihren Vorstellungen gearbeitet, es war aber nicht immer einfach, weil die Funktionäre ein bestimmtes Kunstverständnis hatten.“ Kunst im öffentlichen Raum war also immer ein Aushandlungsprozess.

Mit der Kritik am Formalismus und dem von der DDR-Politik vorgegebenen Sozialistischen Realismus hatten sich die Jugendlichen aus Ilmenau bereits im Mai bei ihrem Besuch der Gedenkstätte Andreasstraße beschäftigt. Auch der Name Sitte war dann schon einmal Thema. Immerhin hängt heute in der Dauerausstellung der Andreasstraße ein Ausschnitt des Emaillebildes „Kampf und Sieg der Arbeiterklasse“ von Willi Sitte, ein Bruder Rudolf Sittes.

Von Rudolf Sitte sind nach 1990 viele Werke verschwunden. Antje Kirsch vermutet, dass Rudolf Sitte auch aufgrund des Materials Beton kaum Anerkennung für seine Kunst erfahren hat. Die Mensa in Ilmenau wurde erst nach Sittes Tod unter Denkmalschutz gestellt. Bei der Sanierung des Gebäudes sind die anderen Werke von ihm, beispielsweise die hinterleuchtete Glasgestaltung in der Cafeteria verschwunden.

Dass Rudolf Sitte das Betonrelief vom Entwurf bis zur Fertigstellung alleine gemacht hat, hat die Jugendlichen beeindruckt. Die künstlerische Idee entstand unter enger Zusammenarbeit mit dem Architekten Ulf Zimmermann, der Sitte auch den Auftrag für die Kunstwerke gab. In der Podcast-Folge „Sitte in Ilmenau“ gibt es weitere Informationen zur Entstehungsgeschichte des Betonreliefs. Die Podcast-Gruppe hat im Universitätsarchiv recherchiert und sich mit der Diskussion innerhalb der Hochschule um die Gestaltung des Kunstwerkes beschäftigt. Außerdem hat ein Interview-Team den Kunst-Workshop begleitet und Mitschüler*innen zu ihrem eigenen Kunstwerk befragt. Das Relief soll einen festen Platz in der Schule bekommen. Die Jugendlichen hatten die Aufgabe, die Besonderheiten der Schule im Kunstwerk abzubilden. Beton kam als Material für die kurze Zeit nicht in Frage. Unter Anleitung der Bildhauerin Sylvia Bohlen hat die Kunst-Gruppe daher ein Relief aus Keramik erstellt.

Podcast Ep. 8 – Sitte in Ilmenau

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In einem dritten Workshop sind zwei Kurzfilme zu Rudolf Sitte entstanden. Kay Albrecht gab Tipps im Storytelling und Tricks in der Kameraführung und im Schnitt. Entstanden ist ein dokumentarischer Film und ein Biopic über Rudolf Sitte im Trailerformat.

Auf den Spuren von Rudolf Sitte – Audiowalk
Rudolf Sitte – Trailer

Die Credits sind aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht öffentlich.

Wer selbst auf Spurensuche nach Sitte in Ilmenau gehen möchte, findet im Blog des Universitätsarchivs der Technischen Universität Ilmenau historische Fotos, den im Podcast erwähnten Briefwechsel aus der Akte und die Artikel aus der Zeitschrift „Neue Hochschule“, herausgegeben von der Hochschulparteileitung der SED.

Mensa der TU Ilmenau

NAME DES KÜNSTLERS*

Rudolf Sitte

Titel des Kunstwerks, jahr

"positiv", 1972

Technik, Maße

Betonrelief, 6,0 x 3,5 m

Projektzeitraum

17. Mai + 26.-29. Juni 2023

Name der schule

Freie Reformschule "Franz von Assisi"

Klasse

9

VORNAMEN DER SCHÜLER*INNEN

J., Lia, L., Miro, Jonah, J., Finjas, T., Johanna, J., Paula, Emily, Mauri, J., Kira, Lisa, M., Jakob, Lilly, F., Lana, A., Vincent, S., Marlon, M., Louis, M., S., Mina, L., Amrei, C., Nelly, N., M.

Name der Lehrkraft

Gundula Rieche, Anja Spreer

KÜNSTLER*IN KUNSTPROJEKT

Sylvia Bohlen (Relief), Kay Albrecht (Film)

NAME DER EXPERT*INNEN

Antje Kirsch

BESONDERER DANK

Dr. Carola Rittig, Juliane Neidhardt, Anja Kürbis (Universitätsarchiv Ilmenau), Ulf Zimmermann